Unverputzter Beton, sichtbare Konstruktionen und freiliegende Grundrisse: Das sind die typischen Attribute, die man mit dem Brutalismus verbindet. Der Begriff leitet sich aus dem Französischen „béton brut“ ab und bedeutet so viel wie „roher Beton“ – das charakteristische Material dieser Bauweise. Verspielte Details, Verzierungen oder Farbe sucht man hier dagegen vergebens. Kein Wunder also, dass die Betonbauten mit ihrer rauen Ästhetik wuchtig, schroff und fast einschüchternd wirken. Für viele sind die Betonmonster städtebauliche Schandflecke, andere sehen in ihnen architektonische Highlights der 50er bis 70er Jahre. Bis heute scheiden sich die Geister.
Ihre Anfänge haben die Betonbauten in den Nachkriegsjahren des 20. Jahrhunderts und sind tief mit dem französisch-schweizerischen Architekten Le Corbusier verwurzelt. Nach den Kriegsjahren war dringend Wohnraum nötig. Le Corbusier nutzte Beton als kostengünstige Ressource und errichtete 1954 erstmals einen größeren Wohnkomplex in Marseille – die „Unité d’Habitation“. In der 138 Meter langen, 25 Meter breiten und 56 Meter hohen Anlage „stapelte“ er Wohnungen für 1600 Personen, Einkaufsstraßen, Kindergärten und Freizeiteinrichtungen.
Auch wenn sich das Zentrum des Brutalismus in den 50er Jahren zunächst in Großbritannien fand, entwickelte sich die Bewegung auf der ganzen Welt. Zu den Architekten/-innen, die im Stil des Brutalismus bauten, gehörten neben Le Corbusier und Alison und Peter Smithson zum Beispiel Ernie Goldfinger, Paulo Mendes da Rocha, Marcel Breuer, Louis Kahn, Gerd Hänska und William Pereira.
Ein großer Teil der Bauwerke sind Wohnblöcke oder öffentliche Gebäude wie Rathäuser, Universitäten, Hochschulen oder Bibliotheken. Wir zeigen fünf interessante Beispiele, welche die Vielfalt unter Beweis stellen.
Immer wieder steht die Frage im Raum, ob Plattenbau Brutalismus ist. Tatsächlich gilt die Unité d’Habitation“ von Le Corbusier als Vorläufer der Plattenbauten. Mit dem Architekturstil Brutalismus haben die Plattenbauten aber wenig gemein. Während es beim Plattenbau vor allem um die Schaffung von kostengünstigem und funktionalem Wohnraum ging, wollte man beim Brutalismus Sichtbeton durchaus ästhetisch in Szene setzen – ein wichtiger Unterschied.
Als „hässlich“ empfinden viele Betrachter den Brutalismus noch immer; andere dagegen möchten die Betonmonster retten. Weil viele Bauwerke in einem schlechten Zustand sind, hat das Deutsche Architekturmuseum (DAM) und der Wüstenrotstiftung 2015 die Initiative SOS Brutalismus ins Leben gerufen. In der dazugehörigen Onlinedatenbank sind mittlerweile mehr als 2000 Bauwerke vertreten; 251 davon sind akut bedroht oder bereits ganz oder teilweise zerstört. Wer mag, folgt der großen Fangemeinde unter dem Hashtag #sosbrutalism auf Instagram.
Ein berühmtes Beispiel für den sogenannten „sakralen Brutalismus“ ist die 1950 gebaute Wahlfahrtskapelle Notre-Dame-du-Haut von Le Corbusier im französischen Ronchamp. Die Besonderheit des sakralen Brutalismus: Er kombiniert die typischen Merkmale des Brutalismus mit dem Zweck religiöser Verehrung und Anbetung. Sakrale Brutalismus-Gebäude haben häufig eine monumentale Präsenz, welche die spirituelle Bedeutung des Ortes zu betonen vermag. Die asymmetrisch gebaute Wahlfahrtskapelle hat keinen kreuzförmigen Kirchengrundrisses, sondern einen einheitlichen Kirchenraum.
Mit dem 1972 fertiggestellten Trellick Tower befindet sich eines der bedeutendsten Bauwerke in London. Errichtet wurde das 31-stöckige Hochhaus mit 219 Wohnungen im Stadtteil North Kensington vom ungarisch-britischen Architekten Ernő Goldfinger. Die Fassade setzt sich aus Waschbetonplatten und unterschiedlich langen Balkonen zusammen; in einem separaten Serviceturm befinden sich der Aufzug, das Treppenhaus und die Abfallschächte.
Wohnungsknappheit führte in den 70er Jahren in Berlin zum Bau des Wohnblocks „Die Schlange“. Der Komplex ist 600 Meter lang, verfügt über 1064 Wohneinheiten und hat eine Autobahnüberbauung. Damit ist er der größte zusammenhängende und durchgängig begehbare Wohnkomplex Europas. Der Entwurf stammt von den Architekten Georg Heinrichs, Gerhard Krebs und Klaus Krebs und wurde zwischen 1976 und 1980 gebaut.
Wie ein Kunstwerk wirkt die Bibliothek der University of California in San Diego, die der amerikanische Architekt William Pereira 1965 entwarf. An prominenter Stelle des Campus thront nun die Geisel Library mit ihren gläsernen Auskragungen auf stählernen Betonpfeilern. Von Weitem betrachtet hat die Bibliothek die Form zweier Hände, die ein Buch halten.
Trotz seiner polarisierenden Natur hat der Brutalismus einen bleibenden Einfluss auf die Architekturgeschichte hinterlassen. Tatsächlich erlebt der Brutalismus heute eine gewisse Wiederbelebung und Architekten/-innen und Designer/-innen lassen Elemente in zeitgenössische Gebäudekonzepte einfließen.
Den monumentalen Brutalismus findet man sogar im entlegenen Japan. So strotzt zum Beispiel das Internationale Konferenzzentrum in Kyoto mit seiner massigen Ästhetik vor Beständigkeit. Der Architekt Sachio Otani „verpflanzte“ den Mega-Komplex im Jahr 1963 auf Stahlbetonstützen in die grüne Landschaft und bettete ihn in eine Gartenanlage mit Betonwegen ein.
Neben Le Corbusier ist das britische Architekten-Ehepaar Alison und Peter Smithson untrennbar mit dem Brutalismus verbunden. Auch sie arbeiteten schon in den 50er Jahren mit Sichtbeton und wollten einen Gegenentwurf zur Nachkriegsarchitektur in Großbritannien schaffen. Ihr berühmtes Werk ist die „Smithdon High School“ in Hunstanton aus dem Jahr 1954, in der sie Sichtbeton mit Glas und Stahl kombinierten. Der englische Architekturkritiker Reyner Banham beschreibt das Gebäude als „nackt, unverfälscht und authentisch“ – bis heute prägende Merkmale des Architekturstils „New Brutalism“ (Neuer Brutalismus).